Weihnachtskonzert 2023: „Winterreise“
Franz Schubert komponierte seinen Liederzyklus „Winterreise“ 1827, in seinem letzten Lebensjahr. Dabei vertonte er Texte des kurz zuvor verstorbenen Romantikers Wilhelm Müller, die vom Leiden und den starken Stimmungsschwankungen eines jungen Wanderers handeln, der seiner Geliebten „gefror'ne Tränen“ nachweint, orientierungslos in Schnee und Eis umherzieht und darüber klagt, dass die Kraft der Liebe nicht stark genug ist, um die „Erstarrung der Natur" zu überwinden.
Nach vielen schmerzhaften Episoden begegnet er am Ende seines Weges einem Leiermann: Obwohl dessen Musik niemanden interessiert, spielt dieser immer weiter seine Drehleier, deren traurig rotierende Bewegung mit der Ziel- und Hoffnungslosigkeit des Wanderers korrespondiert.
Was um Himmels willen mag das Team des diesjährigen Weihnachtskonzertes nur im Schilde führen, wenn es sein Programm gerade unter diesen Titel stellt? Dräut da womöglich ein Abend voller Schwermut und Verzagtheit?
Für eine Überraschung sorgt zunächst das Arrangement in der Aula: An die Stelle der seit Jahrzehnten gewohnten, an Frontalunterricht gemahnenden Anordnung der Stuhlreihen ist eine Art Arena samt Catwalk, Haupt- und Mittelbühne getreten – mit dem sympathischen Effekt, dass es für die Zuschauer keine grottenschlechten Plätze mehr gibt und die Akteure praktisch die ganze Aula bespielen können.
Offensichtich hat das Technik-Team (Luis Siebold, Marvin Kreutzer, Franz Kämmer) innovative Arbeit geleistet. Gesichert hat man sich dabei auch die Unterstützung von Hessen Sound und Sound Systems.
Für ein Bemühen um Professionalität spricht auch die Auswahl der Moderation: Mit Maria Kühlke und Tjorven Böttigheimer aus der G8a wurden zwei Nachwuchs-Autorinnen verpflichtet, die kürzlich ihre ersten Texte im Fischer-Verlag veröffentlicht haben.
In die Aula begeben sich nach und nach die vielen jungen Sängerinnen (darunter Emily Neumann und Hannah Marchewka) wie auch die Routiniers (Cora-Lee Paschke, Helena Dingert) sowie Wagner-Tenor Volko Neitmann und intonieren als erstes Stück eines, aus dem tatsächlich die Melancholie des Schubert’schen Liederzyklus widerhallt:
„In restless dreams I walked alone / Narrow streets of cobblestone” /
“I turned my collar to the cold and damp / When my eyes were stabbed by the flash of a neonlight”.
So wie Wilhelm Müllers Lied den traurigen Leiermann bedauert, dessen Lied niemand hören will, so beklagen Simon und Garfunkel in ihrem „Sound of silence“ die Teilnahmslosigkeit der Großstadt:
„And in the naked light I saw / Ten thousand people, maybe more / People talking without speaking / People hearing without listening / People writing songs that people never share.”
Das lyrische Ich gelangt auch hier zur Erkenntnis der eigenen Wirkungslosigkeit: “But my words like silent raindrops fell.“
Von gnadenloser Kälte, Einsamkeit, Trostlosigkeit und Leere war mittlerweile schon einmal die Rede, aber auch davon, dass man sein Herz öffnen solle, um zu sehen, „was sich verbirgt im ewigen Eis“: Als Erzählerinnen des Abends haben Maria und Tjorven nämlich „Omas altes Tagebuch“ entdeckt, in dem diese von den Geheimnissen des Nordpols berichtet. Voller Erwartungen blasen sie den Staub von dem alten Wälzer, um weiterzulesen.
Schiere Lebensfreude und traditionelle Weihnachtsstimmung versprühen zuerst aber die beiden Stücke „Christmas is coming“ und „Sleighride“ („We’re riding in a wonderland of snow“).
Auch „Omas Tagebuch“ berichtet von einer Schlittenfahrt „vorbei an Elch und Bär“. Selbst Eishockey und Bobfahren im Eiskanal hat Granny erlebt. Die Bühnen-Crew setzt diese Erinnerungen in amüsanter Weise in Szene, im Stil einer Graphic Novel.
Von Reminiszenzen der Großmutter geht es zu den Donnermüttern der schwedischen Band „Thundermother“, deren Song „Loud and alive“ einen Kontrapunkt setzt: „Sick of everything, got nothing to lose.“
Auf den Hard Rock folgt das Orchester: Unter der Leitung von Inga Löser intonieren Akka (Blockflöte), Llouwella, Cathy, Josh (Geige), Julia, Melissa (Querflöte), Juli (Bratsche), Janna und Marina (Cello) sowie Frau Löser selbst am Klavier die Schauergeschichte vom Reich unterhalb des Pariser Opernhauses.
Schaurig geht es auch in Omas Tagebuch zu, wenn sie von den „Lichterscheinungen“ im Eismeer berichtet und vom Raunen über eine Eiskönigin „fern hinter den Hügeln“: Erinnerungen, an die der Song „Let it go“ aus dem Disney-Film „Die Eiskönigin“ anschließt („A kingdom of isolation / And it looks like I’m the queen“).
Als Pausensignal hat das Team ein Schiffshorn ausgewählt.
Nach dem Intermezzo präsentieren Inga Löser am Klavier und Volko Neitmann das 11. Lied aus dem Schubert’schen Liederzyklus, den „Frühlingstraum“: Der Wanderer wird unsanft aus seinen Träumen vom Frühling gerissen: Statt von bunten Blumen auf grünen Wiesen und lustigem Vögelgeschrei ist er umgeben von Raben, die vom Dach schreien. Wieder wird ihm „kalt und finster“. Obendrein grämt er sich angesichts seiner Einfalt: „Ihr lacht wohl über den Träumer / Der Blumen im Winter sah? (…) Nun sitze ich hier alleine / Und denke dem Traume nach.“
Die Musik wechselt dabei zwischen dem fröhlichen Sechsachtel-Takt, in dem der Traum zelebriert wird, dem brutalen Erwachen mit heftigem Staccato samt Wechsel ins Moll – und dem Zurücksehnen nach dem Traum, im Zweivierteltakt. - Volko Neitmann beglückt das Publikum mit seiner an den großen Bühnen gereiften Stimmgewalt.
Maria und Tjorven rollen derweil einen großen Schneeball auf die Zentralbühne, wobei sie sich einen Seitenhieb auf die Renovierungsbedürftigkeit der Aula nicht verkneifen können. Omas Tagebuch schildert dabei einen Schneesturm bei „iesekahlem“ Wind.
Aus dem Schneeball auf der Bühne wird ein Schneemann, mit dem Hannah flirtet und den sie auch mal kopflos macht, während sie Sia’s Titel „Snowman“ vorträgt („Don’t cry snowman / Not in front of me / Who’ll catch your tears if you don’t catch me?“), gefolgt von Michael Bubles „Frosty the snowman“, energiegeladen präsentiert von Cora und Helena.
Drei Queen-Hits, darunter „I want to break free” und “Under Pressure”, runden diese Auftritts-Serie der Clefs ab und illustrieren dabei zwei Seiten einer Medaille, von der himmelhochjauchzenden Verliebtheit bis hin zur Liebe in Krisenzeiten.
Auf der Bühne wird ein Lagerfeuer entzündet. Maria und Tjorven genießen dort Omas Erinnerungen vom Nordpol, und die Clefs samt Bandleader Christian Wiechert erwärmen das Publikum mit Adeles Ballade „Make you feel my love” (“I could offer you a warm embrace / To make you feel my love”).
Unterdessen entsteht auf der Hauptbühne ein Weihnachtsdorf, das die Vorfreude auf die „schöne Zeit“ in Szene setzt – gestört nur von Scrooge (Maurice Fretschner) aus Dickens Weihnachtsgeschichte, der allen missmutig sein Verdikt „Alles Humbug“ entgegenschleudert.
Der Chor aber lässt sich davon nicht beirren und singt beherzt sein „Leise rieselt der Schnee“, gefolgt von einem fetzigen „Santa can you hear me“, dargeboten von Hannah und Emily.
Einen bemerkenswerten Auftritt haben Maria Ferderer und Aaliyah Fernau vom Spielmannszug, die den „Little Drummer Boy“ präsentieren, gesungen von Henry Stitz.
Auch ein Chor von Grundschulkindern unter der Leitung von Heike Baucks zeigt mit seinem Lied zur „Weihnachtszeit“, dass Optimismus Zukunft hat. Das Stück ist ein Ausschnitt aus einem Weihnachtskrippen-Musical, das die Kinder kürzlich erst präsentiert haben.
Oma grüßt abschließend vom Nordpol, wo es ihr inzwischen doch zu kalt wird, und alle Beteiligten stimmen im Finale ein großes „Hallelujah“ an, zu dem das Publikum mittels seiner digitalen Feuerzeuge ein Lichtermeer entzündet, von dem sich in seinen Abschiedsworten auch Impresario Christian Wiechert gerührt zeigt.
Ein besonderer Dank geht an Viola Zachariah, Max Balken und Volko Neitmann für die musikalische und organisatorische Unterstützung sowie an Mattis Kämper, der das Programm am Piano und am Schlagzeug begleitet hat, nicht zu vergessen: Paul, Anna, Jan, Jannik, Jolanda, Josh, Luis, Martha, Paula und Pepe.
Christian Wiechert hofft, dass alle ein wenig Spaß hatten, was gewiss als Understatement des Abends in Erinnerung bleiben wird, wenn man auf die strahlenden Gesichter im Publikum blickt. Nun müsste draußen nur noch ein Posthorn erklingen, das den Wandernden in Freude versetzt, in die Kutsche einlädt und ihn zurück zur Geliebten bringt. Oder er müsste Marias und Tjorvens Oma begegnen.
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